LG Saarbrücken, Az.: 13 S 132/14, Urteil vom 21.11.2014
1. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Amtsgerichts St. Wendel vom 26. Juni 2014 – 4 C 316/13 (63) teilweise abgeändert, und die Klage wird abgewiesen.
2. Die Kosten des Rechtsstreits trägt die Klägerin.
3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
4. Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe
I.
Mit der vorliegenden Klage macht die Klägerin Schadensersatz aus einem Verkehrsunfall geltend, der sich am 28. Januar 2013 in … ereignete.
Auf dem Parkdeck des Parkhauses des …-Kaufhauses sind Zuwegungen und Parkplätze mit gelber Markierung gekennzeichnet. Die Klägerin befuhr die äußere Zuwegung in Richtung Ausfahrt. Der Erstbeklagte befuhr mit dem bei der Zweitbeklagten haftpflichtversicherten Pkw aus Sicht der Klägerin von links kommend eine Fahrgasse und bog nach links in die von der Klägerin genutzte Zuwegung ab. Dabei kam es zur Kollision.
Die Parteien streiten über die von den Unfallbeteiligten einzuhaltenden Verkehrspflichten.
Mit der Klage hat die Klägerin den Wiederbeschaffungsaufwand (2.099,00 €), Sachverständigenkosten (479,69 €) sowie eine Unkostenpauschale (25,56 €), insgesamt 2.604,25 €, abzüglich hierauf gezahlter 1.301,85 €, verbleibend 1.302,40 € nebst vorgerichtlichen Rechtsverfolgungskosten und Zinsen hieraus geltend gemacht.
Die Beklagten haben beantragt, die Klage abzuweisen.
Das Erstgericht, auf dessen Feststellungen ergänzend Bezug genommen wird, hat Beweis erhoben durch Vernehmung der Zeugen … und … Daraufhin hat es die Beklagten als Gesamtschuldner verurteilt, an die Klägerin 781,10 € nebst vorgerichtlichen Rechtsverfolgungskosten und Zinsen hieraus zu zahlen. Im Übrigen hat es die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, der Erstbeklagte habe gegen seine Wartepflicht aus § 8 Abs. 2 StVO verstoßen. Nach den örtlichen Gegebenheiten gelte die Regel „rechts vor links“ (§ 8 Abs. 1 StVO). Die Klägerin treffe kein Verschulden. Allerdings sei die Betriebsgefahr mit einer Haftungsquote von 20 % zu berücksichtigen.
Mit ihrer Berufung verfolgen die Beklagten ihren erstinstanzlichen Klageabweisungsantrag weiter. Sie sind der Auffassung, § 8 Abs. 1 StVO sei vorliegend unanwendbar.
Die Klägerin verteidigt die angegriffene Entscheidung.
II.
Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist zulässig. Sie hat auch in der Sache Erfolg.
1. Das Erstgericht ist zunächst davon ausgegangen, dass sowohl die Klägerin als auch die Beklagten grundsätzlich für die Folgen des streitgegenständlichen Unfallgeschehens gemäß §§ 7Abs. 1, 18 Straßenverkehrsgesetz (StVG) i.V.m. § 115 Versicherungsvertragsgesetz (VVG) einzustehen haben, weil die Unfallschäden bei dem Betrieb eines Kraftfahrzeuges entstanden sind, der Unfall nicht auf höhere Gewalt zurückzuführen ist und für keinen der unfallbeteiligten Fahrer ein unabwendbares Ereignis i.S.v. § 17 Abs. 3 StVG darstellte. Das ist zutreffend und wird zweitinstanzlich auch nicht in Zweifel gezogen.
2. Im Rahmen der danach gemäß § 17Abs. 1, 2 StVG gebotenen Abwägung der beiderseitigen Mitverursachungs- und -verschuldensanteile hat das Erstgericht angenommen, der Erstbeklagte habe den Unfall durch einen Vorfahrtsverstoß nach § 8 Abs. 1 StVO („rechts vor links“) verursacht. Das hält einer Überprüfung nicht stand.
a) Allerdings hat das Erstgericht im Ausgangspunkt zutreffend die StVO angewandt. Die StVO regelt und lenkt den Verkehr auf öffentlichen Wegen und Plätzen. Öffentlich ist ein Verkehrsraum, wenn er entweder ausdrücklich oder mit stillschweigender Duldung des Verfügungsberechtigten für jedermann oder aber für eine allgemein bestimmte größere Personengruppe zur Benutzung zugelassen ist und auch so benutzt wird (vgl. BGH, Beschluss vom 5. Oktober 2011 – 4 StR 401/11, NZV 2012, 394; Kammerurteil vom 7. Mai 2010 – 13 S 14/10). Eröffnet der Betreiber eines Einkaufsmarktes – wie hier – einen dazugehörigen Parkplatz für die Allgemeinheit, so sind diese Voraussetzungen jedenfalls zu den Öffnungszeiten des Einkaufsmarktes unabhängig davon erfüllt, ob die Geltung der StVO durch eine vorhandene Beschilderung ausdrücklich angeordnet ist (vgl. BGH, Urteil vom 25. April 1985 – III ZR 53/84, VersR 1985, 835; BGH, Urteil vom 9. März 1961 – 4 StR 6/61, BGHSt 16, 7, 10).
b) Der Erstbeklagte war an der Unfallstelle jedoch nicht nach § 8 Abs. 1 StVO wartepflichtig, weil die Vorfahrtsregel „rechts vor links“ hier nicht anwendbar war.
aa) Nach vorherrschender Auffassung ist § 8 Abs. 1 StVO auf Parkplätzen grundsätzlich unmittelbar oder jedenfalls analog anwendbar, wenn die angelegten Fahrspuren (eindeutig) Straßencharakter haben (vgl. OLG Nürnberg, Urteil vom 28. Juli 2014 – 14 U 2515/13, juris; OLG Düsseldorf, Urteil vom 29. Juni 2010 – 1 U 240/09, juris; Kammerurteil vom 8. Juni 2012 – 13 S 33/12 (jew. unmittelbare Anwendung); OLG Koblenz VRS 48, 133, 134; OLG Stuttgart VRS 45, 313, 314 (jew. analoge Anwendung). Wann diese Voraussetzung erfüllt ist, wird im Einzelnen unterschiedlich beurteilt und überwiegend vom Vorhandensein typischer baulicher Merkmale einer Straße abhängig gemacht (vgl. etwa OLG Frankfurt zfs 2010, 19 f.; OLG Hamm Schaden-Praxis 2001, 229; OLG Koblenz OLGR 1999, 224; OLG Köln Schaden-Praxis 1998, 199; OLG Karlsruhe VM 1989, 7; OLG Düsseldorf VRS 56, 294, 295).
bb) Eine andere Auffassung nimmt an, § 8 Abs. 1 StVO sei auf Parkplätzen regelmäßig unanwendbar, doch sei die allgemeine Sorgfaltspflicht des vermeintlich Wartepflichtigen in Annäherung an § 8 Abs. 1 StVO gesteigert, weil die Orientierung an der Regel „rechts vor links“ einem verbreiteten – wenngleich irrigen – Rechtsempfinden entspreche (vgl. Saarländisches Oberlandesgericht NJW 1974, 1099, 1100).
cc) Teilweise wird auf Parkplätzen zwar eine Wartepflicht nach § 8 Abs. 1 StVO bejaht, dem Vorfahrtsberechtigten jedoch die Berechtigung abgesprochen, auf die Einhaltung der Vorfahrt zu vertrauen, oder jedenfalls eine (mit-)haftungsbegründende gesteigerte Sorgfaltspflicht des Vorfahrtsberechtigten angenommen (vgl. OLG Köln OLGR 1995, 1 f.; OLG Bremen VM 1975, 48; Landgericht Saarbrücken, Urteil vom 3. Februar 2006 – 13A S 36/05).
dd) Im fließenden Verkehr werden Vorfahrtsregeln eingesetzt, um die Leichtigkeit des Verkehrs zu fördern (vgl. BGH, Urteil vom 9. Oktober 1962 – VI ZR 249/61, NJW 1963, 152; Saarländisches Oberlandesgericht aaO; OLG Stuttgart VRS 45, 313, 314; KG VRS 35, 458). Für die regelmäßige Anwendung von § 8 Abs. 1 StVO auch auf Parkplätzen könnte sprechen, dass die Leichtigkeit des Verkehrs – gerade auf Großparkplätzen mit hohem Verkehrsaufkommen – an ihre Grenzen stoßen kann, wenn anstelle fester Vorfahrtsregeln nur Rücksichtnahme- und Verständigungspflichten gelten. Allerdings steht auf dem Parkplatz nicht das zügige Vorankommen des Verkehrs im Vordergrund, sondern das Bemühen, den verfügbaren Platz möglichst effizient für das Parken zu nutzen und den Verkehr unter Berücksichtigung auch der Fußgängerströme und Ladevorgänge möglichst gefahrlos zu ordnen (vgl. BGH, Urteil vom 9. Oktober 1962 aaO; Siegel SVR 2012, 321, 324). Dabei ist insbesondere den spezifischen Gefahren des Such- und Rangierverkehrs sowie der Begegnung von Fahrzeugen und Personen Rechnung zu tragen. Dem entspricht es, die Pflichten der Verkehrsteilnehmer untereinander grundsätzlich nach § 1 Abs. 2 StVO anzunähern und § 8 Abs. 1 StVO nur anzuwenden, wenn die Fahrbahnen so eindeutig Straßencharakter haben, dass die Funktion des § 8 Abs. 1 StVO, nämlich die Schaffung und Aufrechterhaltung eines (quasi) fließenden Verkehrs, deutlich im Vordergrund steht.
Für eine restriktive Anwendung von § 8 Abs. 1 StVO spricht insbesondere auch das Gebot der Rechts- und Verkehrssicherheit. Einem Verkehrsteilnehmer, der einen ansonsten nach § 1 Abs. 2 StVO zu beurteilenden Parkplatz befährt und eine konkrete Verkehrssituation innerhalb kürzester Zeit erfassen muss, ist es nur dann zumutbar, von einer unbeschilderten Vorfahrtslage auszugehen, wenn bei beiläufiger Betrachtung am Straßencharakter kein ernstlicher Zweifel bestehen kann (im Ausgangspunkt auch OLG Düsseldorf, Urteil vom 29. Juni 2010 aaO; Urteil vom 23. März 2010 – 1 U 156/09, juris; OLG Oldenburg VRS 63, 99, 100; OLG Hamm DAR 1976, 110, OLG Köln VRS 48, 453, 454).
Ein anderes Verständnis müsste überdies Wertungswidersprüche in Kauf nehmen. Wollte man etwa die vorliegende „Einmündung“ nach § 8 Abs. 1 StVO beurteilen, würde man dem aus Richtung des Erstbeklagten kommenden Verkehrsteilnehmer zwar nicht zumuten, auf den von links kommenden „quasi fließenden“ Verkehr zu achten. Wenige Zentimeter vor dem Ende der Parkgasse hätte er aber gegenüber einem aus einer Parktasche ausparkenden Verkehrsteilnehmer noch nach § 1 Abs. 2 StVO jederzeit bremsbereit sein müssen. Wollte man lediglich die äußere Zuwegung als Straße qualifizieren, die Parkgasse hingegen nicht, müsste im „Einmündungsbereich“ gar § 10 Abs. 1 StVO in Betracht gezogen werden (vgl. OLG Naumburg OLGR 2007, 394 ff.; OLG Karlsruhe VM 1989, 7; OLG Stuttgart VRS 45, 313, 315; OLG Köln VRS 48, 453, 455; KG zfs 2010, 377, mit Anm. Diehl).
ee) Die danach anzulegenden – hohen – Anforderungen an den Straßencharakter werden im vorliegenden Fall nicht erfüllt. Eine Fahrgasse zwischen markierten Parkreihen, wie sie der Erstbeklagte hier befuhr, bildet keine Fahrbahn mit Straßencharakter, wenn – wie regelmäßig und auch hier – die Abwicklung des ein- und ausparkenden Rangierverkehrs zweckbestimmend ist (vgl. OLG Karlsruhe VM 1989, 7; OLG Oldenburg VRS 63, 99, 100; Siegel VRS 2012, 321, 323; Stollenwerk SVR 2010, 237, 239). Aber auch die Parkgassen verbindende Zuwegung, die die Klägerin befuhr, diente hier nicht dem fließenden Verkehr. Zwar besteht sie hier aus zwei breiten, mit Richtungspfeilen versehenen und durch eine Mittellinie abgetrennten Fahrbahnen. Jedoch sind diese Teil einer einheitlich geteerten Fläche, ohne dass sonstige bauliche Vorkehrungen wie Randsteine, Rinnen, Poller, Beeteinfassungen o. dgl. einen eindeutigen Straßencharakter vermitteln würden. Der gesamte Parkplatzbereich einschließlich der Verbindungsspur wird damit von den typischen Merkmalen eines Parkplatzes geprägt, die die maßgebliche Anwendung von § 1 Abs. 2 StVO – nicht die von § 8 Abs. 1 StVO – rechtfertigen.
3. Der Erstbeklagte hat jedoch gegen § 1 Abs. 2 StVO verstoßen. Das Gebot der allgemeinen Rücksichtnahme verlangt von einem Verkehrsteilnehmer, auf Parkplätzen jederzeit bremsbereit zu fahren. Unter den vorliegenden Umständen war diese Sorgfaltspflicht noch weiter gesteigert. Denn ein Verkehrsteilnehmer an der Stelle des Erstbeklagten musste mit der nicht fernliegenden Möglichkeit rechnen, dass die Klägerin in der irrigen Annahme der Regel „rechts vor links“ ihre Fahrt fortsetzen würde. Er hätte deshalb nicht – wie geschehen – in die Zuwegung einfahren dürfen, ohne sich vorher zu vergewissern, dass die Klägerin ihm den Vortritt lassen würde.
4. Entgegen der angegriffenen Entscheidung hat allerdings auch die Klägerin gegen die sie nach § 1 Abs. 2 StVO treffende Sorgfaltspflicht verstoßen. Denn auch sie hätte sich vor der Einfahrt in den „Einmündungsbereich“ vergewissern müssen, dass sie diesen durchfahren konnte, ohne den Erstbeklagten zu gefährden. Dass sie diesen Anforderungen nicht genügt hat, ergibt sich schon aus den Angaben der informatorisch angehörten Klägerin selbst. Danach ist davon auszugehen, dass sie im – irrigen – Vertrauen auf ihre eigene Vorfahrt in den „Einmündungsbereich“ einfuhr, ohne sich zuvor hinreichend über das Fahrverhalten des Erstbeklagten zu vergewissern.
5. Einen Geschwindigkeitsverstoß der Klägerin hat das Erstgericht demgegenüber zu Recht und zweitinstanzlich unangegriffen nicht als erwiesen angesehen.
6. Im Rahmen der nach § 17Abs. 1, 2 StVO vorzunehmenden Abwägung der beiderseitigen Mitverursachungs- und -verschuldensanteile führen die beiderseitigen, annähernd gleich schwer wiegenden Verkehrsverstöße zu einer hälftigen Haftungsteilung. Nachdem die Beklagten auf den erstinstanzlich unangegriffen mit 2.603,69 € angenommenen Schaden der Klägerin bereits 1.301,85 € gezahlt haben, ist der Anspruch der Klägerin in voller Höhe erfüllt (§ 362 BGB), so dass die Klage in Höhe der Hauptforderung und der hiervon abhängigen Nebenforderungen abzuweisen ist.
III.
Die Kostenentscheidung gründet auf § 91 Abs. 1 ZPO. Die Entscheidung über die Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 708Nr. 10, 711,713 ZPO, § 26 Nr. 8 EGZPO. Die Revision war nicht zuzulassen, da die Sache keine grundsätzliche Bedeutung hat und sie keine Veranlassung gibt, eine Entscheidung des Revisionsgerichts zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung herbeizuführen (§ 543 Abs. 2 ZPO).