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Sozialauswahl – Krankheitsbedingte Ausfallzeiten – Berücksichtigung

BUNDESARBEITSGERICHT

Az.: 2 AZR 306/06

Urteil vom 31.05.2007


Leitsätze:

Die besonders hohe Krankheitsanfälligkeit eines Arbeitnehmers begründet bei der Sozialauswahl für sich noch kein berechtigtes betriebliches Interesse im Sinne von § 1 Abs. 3 Satz 2 KSchG, einen anderen vergleichbaren und nach § 1 Abs. 3 Satz 1 KSchG weniger schutzbedürftigen Arbeitnehmer weiterzubeschäftigen.


1. Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landesarbeitsgerichts Sachsen-Anhalt vom 13. Dezember 2005 - 2 (9) Sa 116/05 - aufgehoben.

2. Der Rechtsstreit wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung - auch über die Kosten der Revision - an das Landesarbeitsgericht zurückverwiesen.

Tatbestand:

Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer ordentlichen betriebsbedingten Kündigung und einen von der Beklagten gestellten Auflösungsantrag.

Die am 23. Juni 1950 geborene, verheiratete Klägerin war seit dem 15. Oktober 1991 bei der Beklagten als „Wirtschaftshilfe“ gegen eine Vergütung nach der VergGr. 9 der auf Grund der vertraglichen Vereinbarungen geltenden „Richtlinie für Arbeitsverträge in den Einrichtungen des Deutschen Caritasverbandes“ (im Folgenden: AVR-Caritas) beschäftigt. Sie arbeitete ursprünglich auf der Intensivstation des S -Krankenhauses (im Folgenden: ITS) und verrichtete dort ua. Reinigungs- und Servicearbeiten.

Im Jahr 1998 erlitt die Klägerin einen Herzinfarkt. Sie wurde mit einem Grad der Behinderung von 50 als Schwerbehinderte anerkannt. Daraufhin wurde sie zunächst im Bereich „Sterilgut“ des S -Krankenhauses eingesetzt. Der Bereich „Sterilgut“ wurde später geschlossen. Nach einer Arbeitsunfähigkeit vom 14. September 1998 bis zum 25. Oktober 1998 wurde die Klägerin in die Wäscherei/Nähstube des S. B-Krankenhauses umgesetzt. Ob dies auf ihren Wunsch und auf Dauer geschah, ist zwischen den Parteien streitig.

In dem früheren Arbeitsbereich der Klägerin auf der ITS setzte die Beklagte ab Mai 1998 die am 27. August 1955 geborene, verheiratete Arbeitnehmerin N als „Stationshilfe“ ein und zahlte ihr eine Vergütung nach der VergGr. 11 der AVR-Caritas. Nach einem Bewährungsaufstieg erhielt sie zuletzt eine Vergütung nach der VergGr. 10 AVR-Caritas.

In der Zeit vom 16. Januar 1999 bis zum 30. September 2004 wies die Klägerin folgende Arbeitsunfähigkeitszeiten auf:

13.07.1999 – 25.07.1999: 13 Kalendertage mit Entgeltfortzahlung (EFZ)

28.09.1999 – 30.09.1999: 3 Kalendertage mit EFZ

10.10.1999 – 20.11.1999: 41 Kalendertage mit EFZ

21.11.1999 – 03.01.2000: 39 Kalendertage ohne EFZ

08.02.2001 – 21.03.2001: 42 Kalendertage mit EFZ

22.03.2001 – 15.05.2001: 50 Kalendertage ohne EFZ

03.07.2001 – 31.07.2001: 28 Kalendertage ohne EFZ

18.09.2001 – 28.09.2001: 11 Kalendertage mit EFZ

30.09.2002 – 02.10.2002:  3 Kalendertage mit EFZ

13.03.2003 – 21.03.2003:  9 Kalendertage mit EFZ

03.02.2004 – 13.02.2004: 11 Kalendertage mit EFZ

15.03.2004 – 02.04.2004: 19 Kalendertage mit EFZ

30.07.2004 – 13.08.2004: 15 Kalendertage mit EFZ

22.09.2004 – 30.09.2004:  9 Kalendertage mit EFZ

Der Geschäftsführer der Beklagten forderte mit Schreiben vom 5. Januar 2004 den kaufmännischen Direktor der Beklagten auf, den Wäschereibetrieb zum nächstmöglichen Zeitpunkt einzustellen. Am 14. April 2004 schloss die Beklagte mit der Firma G GmbH einen ab 1. Oktober 2004 beginnenden Liefervertrag über die „Bearbeitung von kundeneigener Wäsche (kochfest) und Sonderartikel“. Mit diesem Vertrag verpflichtete sich die Firma G zur Abholung, Reinigung und zum Rücktransport der Wäsche. Ferner übernahm sie den Mietberufsbekleidungsservice.

Mit Schreiben vom 21. Januar 2004 leitete die Beklagte das Anhörungsverfahren zur Kündigung des Arbeitsverhältnisses der Klägerin bei der Mitarbeitervertretung ein. Die Mitarbeitervertretung äußerte sich zur Kündigung nicht.

Mit Bescheid vom 18. März 2004, der Beklagten am 25. März 2004 zugegangen, erteilte das Integrationsamt die Zustimmung zur ordentlichen Kündigung der Klägerin.

Mit Schreiben vom 29. März 2004 kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis der Klägerin ordentlich aus betriebsbedingten Gründen zum 30. September 2004.

Mit ihrer Klage hat sich die Klägerin gegen diese Kündigung gewandt und die Auffassung vertreten, für die Kündigung liege kein hinreichend dringendes betriebliches Erfordernis vor. Die Fremdvergabe der Wäschebearbeitung führe zu keiner Kostenreduzierung. Die Sozialauswahl sei fehlerhaft, weil Arbeitnehmer der ITS, insbesondere Frau N, nicht in sie einbezogen worden seien. Nach der Stabilisierung ihres Gesundheitszustands hätte sie, die Klägerin, wie die ärztlichen Stellungnahmen zeigten, ohne Weiteres und ohne Gesundheitseinschränkungen arbeiten können.

Die Klägerin hat beantragt,

festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien nicht durch die Kündigung der Beklagten vom 29. März 2004 aufgelöst worden ist.

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen,

hilfsweise für den Fall ihres Unterliegens das Arbeitsverhältnis zum 30. September 2004 gegen Zahlung einer angemessenen Abfindung aufzulösen.

Die Beklagte hat im Wesentlichen ausgeführt: Auf Grund der wirtschaftlichen und haushaltsrechtlichen Vorgaben habe sie sich entschlossen, die Wäscherei und die Nähstube zu schließen und die Arbeiten durch einen externen Dritten ausführen zu lassen. Eine Sozialauswahl sei nicht erforderlich gewesen; die Wäscherei und die Nähstube seien eigenständige Betriebsteile, die vollständig geschlossen worden seien. Die Klägerin sei mit der auf ITS tätigen und in einer anderen Vergütungsgruppe eingereihten N nicht vergleichbar, weil sie seinerzeit selbst um eine Versetzung in einen „Schonbereich“ gebeten habe. Die Klägerin sei im Bereich der ITS nicht einsetzbar, da sie krankheitsanfällig und nicht hinreichend belastbar sei. Die Mitarbeitervertretung sei mit Schreiben vom 21. Januar 2004 hinreichend unterrichtet worden.

Der Auflösungsantrag sei begründet. Die Klägerin habe während der Pause in der Kammerverhandlung am 21. Oktober 2004 ihre baldige Erkrankung angekündigt.

Die Klägerin hat zu ihrem Antrag auf Zurückweisung des Auflösungsantrags ausgeführt, sie habe die von der Beklagten behauptete Äußerung am 21. Oktober 2004 nicht gemacht.

Das Arbeitsgericht hat unter Abweisung des Auflösungsantrags der Klage stattgegeben. Auf die Berufung der Beklagten hat das Landesarbeitsgericht die erstinstanzliche Entscheidung abgeändert und die Klage abgewiesen. Mit der vom Bundesarbeitsgericht zugelassenen Revision (Beschluss vom 15. März 2006 - 4 AZN 21/06 -) verfolgt die Klägerin ihren Kündigungsschutzantrag weiter.

Entscheidungsgründe:

Die Revision der Klägerin hat Erfolg und führt zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Landesarbeitsgericht.

A.

Das Landesarbeitsgericht hat seine die Klage abweisende Entscheidung im Wesentlichen wie folgt begründet: Die Kündigung der Klägerin sei aus dringenden betrieblichen Erfordernissen iSv. § 1 Abs. 2 KSchG sozial gerechtfertigt. Der Arbeitsplatz der Klägerin sei auf Grund der nicht zu beanstandenden Unternehmerentscheidung, die Wäscherei und Nähstube zu schließen, weggefallen. Die Sozialauswahl nach § 1 Abs. 3 KSchG sei fehlerfrei. Zwar sei die Klägerin als Wirtschaftshilfe mit einer Tätigkeit in der Wäscherei/Näherei grundsätzlich mit den Arbeitnehmern vergleichbar, die auf der ITS Hilfstätigkeiten als Stationshilfe ausführten. Es könne dahingestellt bleiben, ob die Klägerin und Frau N angesichts ihrer unterschiedlichen Eingruppierungen vergleichbar seien. Eine Vergleichbarkeit scheide nämlich schon nach § 1 Abs. 3 Satz 2 KSchG aus, da die Klägerin besonders krankheitsanfällig sei. Bei einer hohen Krankheitsanfälligkeit einer Arbeitnehmerin könne die Weiterbeschäftigung einer anderen an sich vergleichbaren und weniger schützensbedürftigen Arbeitnehmerin im betrieblichen Interesse liegen. Im Hinblick auf die erheblichen Fehlzeiten der Klägerin sei die Annahme gerechtfertigt, sie sei anders als Frau N, die nicht so häufig krank sei, weniger verfügbar. Darin liege ein berechtigtes betriebliches Interesse iSv. § 1 Abs. 3 Satz 2 KSchG. Schließlich sei auch die Mitarbeitervertretung ordnungsgemäß beteiligt worden.

B.

Dem folgt der Senat weder im Ergebnis noch in der Begründung.

Das Landesarbeitsgericht konnte die Kündigungsschutzklage nicht mit dieser Begründung abweisen. Ob das Arbeitsverhältnis der Klägerin durch die Kündigung der Beklagten vom 29. März 2004 aus betriebsbedingten Gründen gleichwohl rechtswirksam beendet worden ist, kann auf Grund des bisher festgestellten Sachverhalts nicht abschließend beurteilt werden.

I.

Die Würdigung des Landesarbeitsgerichts, die Kündigung der Klägerin sei durch dringende betriebliche Erfordernisse bedingt (§ 1 Abs. 2 KSchG), ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden.

Nach den für den Senat bindenden Feststellungen des Landesarbeitsgerichts (§ 559 Abs. 2 ZPO) hat sich die Beklagte Anfang des Jahres 2004 dazu entschlossen, künftig die Wäscherei und die Nähstube einzustellen, die dort anfallenden Arbeiten ab 1. Oktober 2004 fremd zu vergeben und durch die Firma G ausführen zu lassen. Durch die Schließung dieses Bereichs sind die entsprechenden Arbeitsplätze in der Nähstube und der Wäscherei weggefallen.

Entgegen der Auffassung der Klägerin spielt es keine Rolle, ob durch die Fremdvergabe der Wäschereinigung gegenüber der bisherigen Bearbeitung tatsächlich Kosten gespart werden. Jedenfalls steht fest, dass ab dem 1. Oktober 2004 diese Arbeiten nicht mehr von der Beklagten selbst und von ihren Mitarbeitern ausgeführt werden. Damit liegt ein kündigungsrelevanter Wegfall entsprechender Arbeitsmöglichkeiten vor.

Anhaltspunkte für eine missbräuchliche Ausübung des unternehmerischen Gestaltungsspielraums sind nicht erkennbar. Möglichkeiten zu einer anderweitigen Beschäftigung der Klägerin auf einem freien Arbeitsplatz bei der Beklagten hat das Landesarbeitsgericht nicht festgestellt.

II.

Ob die Kündigung vom 29. März 2004 nach § 1 Abs. 3 KSchG sozial ungerechtfertigt ist, steht auf Grund der bisherigen Feststellungen des Berufungsgerichts jedoch noch nicht fest.

Das Landesarbeitsgericht konnte jedenfalls die Sozialauswahl nicht mit dem Hinweis auf § 1 Abs. 3 Satz 2 KSchG noch als sozial gerechtfertigt ansehen.

1.

Die Ausführungen des Berufungsgerichts zur Sozialauswahl sind in der Revisionsinstanz nur beschränkt nachprüfbar. Bei der Frage der ausreichenden Berücksichtigung der in § 1 Abs. 3 Satz 1 KSchG genannten sozialen Gesichtspunkte handelt es sich genauso wie bei der Frage, ob die Einbeziehung bestimmter Arbeitnehmer, deren Weiterbeschäftigung, insbesondere wegen ihrer Kenntnisse, Fähigkeiten und Leistungen oder zur Sicherung einer ausgewogenen Personalstruktur des Betriebs in berechtigtem betrieblichen Interesse liegt (Satz 2 der Norm), um die Anwendung unbestimmter Rechtsbegriffe, die vom Revisionsgericht nur darauf überprüft werden können, ob das angefochtene Urteil diese Rechtsbegriffe selbst verkannt hat, ob es bei der Unterordnung des Sachverhalts unter die Rechtsnorm des § 1 Abs. 3 KSchG Denkgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze verletzt hat, ob es alle wesentlichen Umstände berücksichtigt hat und ob es in sich widerspruchsfrei ist (Senat 2. Dezember 1999 - 2 AZR 757/98 - AP KSchG 1969 § 1 Soziale Auswahl Nr. 45 = EzA KSchG § 1 Soziale Auswahl Nr. 42; zuletzt 6. Juli 2006 - 2 AZR 442/05 - AP KSchG 1969 § 1 Soziale Auswahl Nr. 82 = EzA KSchG § 1 Soziale Auswahl Nr. 69).

2.

Auch diesem eingeschränkten Prüfungsmaßstab hält die vom Landesarbeitsgericht gegebene Begründung nicht stand. Das Berufungsgericht hat den Rechtsbegriff des berechtigten betrieblichen Interesses iSd. § 1 Abs. 3 Satz 2 KSchG unzutreffend ausgelegt.

a) Das Landesarbeitsgericht hat insoweit den Prüfungsmaßstab und den Begriff des berechtigten betrieblichen Interesses verkannt, als es ein mögliches berechtigtes betriebliches Interesse an der Weiterbeschäftigung der Arbeitnehmerin N schon nicht gegen die sozialen Belange der Klägerin abgewogen hat. Es hat es als ausreichend angesehen, dass die Klägerin im Gegensatz zu der Mitarbeiterin N häufiger erkrankt und daher der Einsatz von Frau N für die Beklagte vorteilhafter sei. Damit hat es das betriebliche Interesse allein für maßgeblich gehalten. Dies ist fehlerhaft, weil nach der Rechtsprechung des Senats (12. April 2002 - 2 AZR 706/00 - AP KSchG 1969 § 1 Soziale Auswahl Nr. 56 = EzA KSchG § 1 Soziale Auswahl Nr. 48) das Landesarbeitsgericht das Interesse der sozial schwächeren Klägerin gegen das - berechtigte - betriebliche Interesse der Beklagten an der Herausnahme der Arbeitnehmerin N hätte abwägen müssen (siehe auch ErfK/Ascheid/Oetker 7. Aufl. § 1 KSchG Rn. 501).

Nach § 1 Abs. 3 Satz 2 KSchG sind in die soziale Auswahl Arbeitnehmer nicht einzubeziehen, deren Weiterbeschäftigung, insbesondere wegen ihrer Kenntnisse, Fähigkeiten und Leistungen oder zur Sicherung einer ausgewogenen Personalstruktur des Betriebs, im berechtigten betrieblichen Interesse liegt. Indem der Gesetzgeber das bloße betriebliche Interesse nicht ausreichen lässt, sondern weiter fordert, das Interesse müsse „berechtigt sein“, gibt er zu erkennen, dass auch ein vorhandenes betriebliches Interesse „unberechtigt“ sein kann. Das setzt voraus, dass nach dem Gesetz gegenläufige Interessen denkbar und zu berücksichtigen sind, die einer Ausklammerung von sog. Leistungsträgern aus der Sozialauswahl auch dann entgegenstehen können, wenn sie bei einer isolierten Betrachtung des betrieblichen Interesses gerechtfertigt wären. Bei diesen gegenläufigen Interessen kann es sich nach der Rechtsprechung des Senats angesichts des Umstands, dass § 1 Abs. 3 Satz 2 KSchG eine Ausnahme vom Gebot der Sozialauswahl statuiert, nur um die Belange des sozial schwächeren Arbeitnehmers handeln. Die Interessen müssen berechtigt im Kontext mit der Sozialauswahl sein (vgl. Senat 12. April 2002 - 2 AZR 706/00 - aaO mwN). Das Interesse des sozial schwächeren Arbeitnehmers ist im Rahmen des § 1 Abs. 3 Satz 2 KSchG demnach gegen das betriebliche Interesse an einer Herausnahme des sog. Leistungsträgers abzuwägen. Je schwerer dabei das soziale Interesse wiegt, umso gewichtiger müssen die Gründe für die Ausklammerung des Leistungsträgers sein. Nach § 1 Abs. 3 Satz 1 KSchG bleibt es deshalb dabei, dass die Auswahl nach sozialen Gesichtspunkten die Regel darstellt, die Ausklammerung sog. Leistungsträger nach Satz 2 der Norm hingegen die Ausnahme bleiben soll.

b) Hinzu kommt, dass das Landesarbeitsgericht nicht festgestellt hat, ob die Mitarbeiterin N überhaupt ein „Leistungsträger“ iSd. § 1 Abs. 3 Satz 2 KSchG ist.

aa) Frau N ist, wenn eine Vergleichbarkeit zwischen ihr und der Klägerin gegeben sein sollte, deutlich sozial stärker. Sie war zum Kündigungszeitpunkt 48 Jahre alt und wies eine Betriebszugehörigkeit von fünf Jahren auf. Die Klägerin war hingegen 53 Jahre alt, seit zwölf Jahren im Betrieb der Beklagten beschäftigt und ist schwerbehindert.

bb) Dementsprechend wäre nach Satz 2 des § 1 Abs. 3 KSchG die Auswahl zu Lasten der gekündigten Klägerin nur gerechtfertigt, wenn eine Weiterbeschäftigung von Frau N im berechtigten betrieblichen Interesse liegen würde. Dabei können nach der Regelung des Satzes 2 auch andere Faktoren als Fähigkeiten, Kenntnisse und Leistungen dazu führen, einen sozial stärkeren Arbeitnehmer bei Vorliegen eines entsprechenden berechtigten betrieblichen Interesses weiterzubeschäftigen. Die gesetzliche Regelung ist, wie das Wort „insbesondere“ zeigt, nicht abschließend. Deshalb können auch andere Aspekte im Einzelfall zur Weiterbeschäftigung eines sozial stärkeren Arbeitnehmers führen (vgl. KR-Griebeling 8. Aufl. § 1 KSchG Rn. 630; ErfK/Ascheid/Oetker 7. Aufl. § 1 KSchG Rn. 497; Preis DB 1998, 1761; Eylert/Schinz AE 2004, 224).

cc) Allerdings ist zu beachten, dass sich der Arbeitgeber nicht auf die „Nachteile“ des zu kündigenden und sozial schutzwürdigen Arbeitnehmers zur Begründung seines berechtigten betrieblichen Interesses berufen kann. § 1 Abs. 3 Satz 2 KSchG fördert keine Negativauswahl (HWK/Quecke 2.Aufl. § 1 KSchG Rn. 397). Entscheidend ist vielmehr, ob der „Leistungsträger“ dem Betrieb erhebliche Vorteile vermittelt. Eine Weiterbeschäftigung muss für den Betrieb von besonderer Bedeutung sein (Preis Kündigung und Kündigungsschutz im Arbeitsverhältnis 9. Aufl. Rn. 1127) , dem Arbeitgeber also einen nicht unerheblichen Vorteil bringen, der bei einer regulären Sozialauswahl nicht zu erreichen wäre (KR-Griebeling § 1 KSchG Rn. 630; Fischermeier NZA 1997, 1092; Bader NZA 2004, 65, 73). Deshalb kann der Argumentation des Landesarbeitsgerichts, die - sozial schutzwürdigere - Klägerin sei krankheitsanfällig und schon deshalb aus der Sozialauswahl herauszunehmen (vgl. auch von Hoyningen-Huene/Linck KSchG 14. Aufl. § 1 Rn. 959; KR-Griebeling § 1 KSchG Rn. 637; HaKo-Gallner KSchG § 1 Rn. 766), nicht gefolgt werden. Sie läuft nicht nur dem Schutzbedürfnis erkrankter Arbeitnehmer - denen ggf. eine krankheitsbedingte Kündigung erklärt werden mag - zuwider. Sie widerspricht auch der Systematik und dem Sinn und Zweck des § 1 Abs. 3 Satz 2 KSchG nF. Zwar sollte die Erhaltung der Leistungsfähigkeit des Betriebs gegenüber den sozialen Gesichtspunkten gestärkt werden. Der Vorrang sollte aber nicht absolut wirken. Vielmehr müssen die berechtigten Belange des sozial schwächeren Arbeitnehmers in Rechnung gestellt werden.

dd) Die Beklagte kann sich deshalb nur wirksam auf eine Weiterbeschäftigung von Frau N berufen, wenn diese in einem besonderen Maße für den Betrieb erforderlich wäre. Dazu reicht eine deutlich geringe Fehlzeitenquote allein nicht aus. Etwas anderes kann allenfalls dann gelten, wenn bei besonderen Arbeitsaufgaben oder Tätigkeitsbereichen (beispielsweise bei Schlüsselpositionen mit Schlüsselqualifikationen) ein kurzfristiger Ersatz anderer Arbeitnehmer nicht oder nur mit sehr großen Schwierigkeiten organisiert werden kann, z.B. weil die zu vertretende Tätigkeit äußerst komplex ist bzw. eine hohe Einarbeitungsintensität erfordert oder auf Grund der Bedeutung des Arbeitsplatzes (z.B. bei einer bestimmten Kundenbindung) ein häufiger Einsatz von Vertretungskräften zur konkreten Gefahr eines Auftragsverlustes führen könnte (vgl. Preis Kündigung und Kündigungsschutz im Arbeitsverhältnis Rn. 1127; Preis NZA 1997, 1073, 1084). Auch kann die Weiterbeschäftigung bestimmter sozial stärkerer Arbeitnehmer erforderlich sein, wenn im Betrieb nach einer Sozialauswahl nach allein sozialen Kriterien sonst nur noch bzw. im Wesentlichen nur noch Arbeitnehmer mit hohen Fehlzeiten verbleiben (Löwisch/Spinner Kommentar zum Kündigungsschutzgesetz 9. Aufl. § 1 Rn. 392) . In diesen Fällen gibt es dann auch keinen Widerspruch zu den Erfordernissen einer krankheitsbedingten Kündigung (aA Bär AuR 2004, 169, 171).

ee) Im Entscheidungsfall hat die Beklagte nicht hinreichend dargetan, dass eine Weiterbeschäftigung der sozial stärkeren Mitarbeiterin N im berechtigten betrieblichen Interesse lag. Sie hat noch nicht einmal dargelegt, ob und welche krankheitsbedingten Fehlzeiten diese Mitarbeiterin in dem vergleichbaren Zeitraum aufweist. Ferner fehlt jeglicher substanziierter Sachvortrag zu den Auswirkungen der krankheitsbedingten Ausfälle von Reinigungskräften auf der ITS und der daraus resultierenden möglichen besonderen Schwierigkeiten, die nur durch eine Weiterbeschäftigung von stets gesunden Mitarbeitern gewährleistet werden könnte.

III.

Die Entscheidung des Landesarbeitsgerichts erweist sich auf der Basis der bisherigen Feststellungen auch nicht aus anderen Gründen als zutreffend. Deshalb war der Rechtsstreit zur weiteren Sachaufklärung und zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Landesarbeitsgericht zurückzuverweisen (§ 563 ZPO).

Das Berufungsgericht durfte insbesondere die Frage einer Vergleichbarkeit zwischen der Klägerin und der Mitarbeiterin N nicht dahingestellt sein lassen.

1.

Entgegen der Auffassung der Beklagten war eine Sozialauswahl nicht schon deshalb obsolet, weil die Wäscherei und die Nähstube vollständig geschlossen worden sind. Die Wäscherei und die Nähstube bilden keinen eigenständigen Betrieb, sondern sind Teile des S. B-Krankenhauses der Beklagten.

2.

Nach der ständigen Rechtsprechung des Senats bestimmt sich der Kreis der in die soziale Auswahl einzubeziehenden vergleichbaren Arbeitnehmer in erster Linie nach arbeitsplatzbezogenen Merkmalen, also zunächst nach der ausgeübten Tätigkeit. Dies gilt nicht nur bei einer Identität der Arbeitsplätze, sondern auch dann, wenn der Arbeitnehmer auf Grund seiner Tätigkeit und Ausbildung eine andersartige, aber gleichwertige Tätigkeit ausführen kann. Die Notwendigkeit einer kurzen Einarbeitungszeit steht einer Vergleichbarkeit nicht entgegen („qualifikationsmäßige Austauschbarkeit“: 2. Juni 2005 - 2 AZR 480/04 - BAGE 115, 92; 23. November 2004 - 2 AZR 38/04 - BAGE 112, 361). Dabei kann, vor allem im öffentlichen Dienst, der tariflichen Eingruppierung eine wichtige inzidenzielle Bedeutung zukommen (vgl. insbesondere Senat 23. November 2004 - 2 AZR 38/04 - BAGE 112, 361; 5. Dezember 2002 - 2 AZR 697/01 - BAGE 104, 138; 2. März 2006 - 2 AZR 23/05 - AP KSchG 1969 § 1 Soziale Auswahl Nr. 81 = EzA KSchG § 1 Soziale Auswahl Nr. 67). An einer Vergleichbarkeit fehlt es jedoch, wenn der Arbeitgeber den Arbeitnehmer auf Grund des zugrunde liegenden Arbeitsvertrags nicht einseitig auf den anderen Arbeitsplatz um- oder versetzen kann („arbeitsvertragliche Austauschbarkeit“: 2. Juni 2005 - 2 AZR 480/04 - aaO; 5. Dezember 2002 - 2 AZR 697/01 - aaO; 2. März 2006 - 2 AZR 23/05 - aaO).

Haben die Arbeitsvertragsparteien in ihrem Vertrag die vertraglich geschuldete Tätigkeit beschrieben, wie vorliegend bei der Klägerin als „Wirtschaftshilfe“, so kann der Arbeitgeber der Arbeitnehmerin grundsätzlich nur solche Tätigkeiten im Rahmen der vereinbarten Vergütungsgruppe zuweisen, die mit der Tätigkeitsbeschreibung übereinstimmen. Dies gilt insbesondere, wenn die Tätigkeit hinreichend bestimmt bezeichnet worden ist (vgl. Senat 12. April 1973 - 2 AZR 291/72 - AP BGB § 611 Direktionsrecht Nr. 24 = EzA BGB § 611 Nr. 12; BAG 29. Oktober 1997 - 5 AZR 573/96 - AP BGB § 611 Direktionsrecht Nr. 51 = EzA BGB § 611 Direktionsrecht Nr. 19; Senat 2. März 2006 - 2 AZR 23/05 - aaO).

3.

Unter Berücksichtigung dieses Maßstabs kann auf Grund der bisherigen Feststellungen noch nicht abschließend beurteilt werden, ob die Klägerin überhaupt mit der Arbeitnehmerin N vergleichbar ist.

a) Die Klägerin ist nach ihrem Arbeitsvertrag als „Wirtschaftshilfe“ mit einer Vergütung nach der Vergütungsgruppe 9 der AVR-Caritas eingestellt und beschäftigt worden. Diese vertragliche Regelung basierte auf der früheren Tätigkeit der Klägerin in der ITS. Eine Vertragsanpassung, insbesondere auch hinsichtlich ihrer Vergütung, ist während ihrer Tätigkeit in der Nähstube und Wäscherei nicht erfolgt. Ist die Klägerin nach ihrem Arbeitsvertrag demnach nach wie vor als „Wirtschaftshilfe“ anzusehen, so bleibt für das Landesarbeitsgericht zu klären, auf welcher Basis die Arbeitnehmerin N bei der Beklagten beschäftigt ist.

b) Gegen eine Vergleichbarkeit und Austauschbarkeit mag zunächst die unterschiedliche Einreihung in die Vergütungsgruppe der AVR-Caritas sprechen. Entsprechende Feststellungen, warum die Klägerin in die Vergütungsgruppe 9 und die Arbeitnehmerin N in die Vergütungsgruppe 11 bzw. 10 eingereiht worden ist, lassen sich der Berufungsentscheidung nicht entnehmen. Ob in Anwendung der Rechtsprechung des Senats wegen der unterschiedlichen Einreihung in die unterschiedlichen Vergütungsgruppen der AVR-Caritas eine Vergleichbarkeit schon deshalb ausscheidet, kann auf Grund des bisherigen festgestellten Sachverhalts nicht abschließend beurteilt werden. Dies ist vor allem auch deshalb nicht möglich, weil nicht erkennbar ist, warum die Arbeitnehmerin N für eine der früheren Tätigkeit der Klägerin vergleichbare Tätigkeit eine deutlich geringere Einstufung erfahren hat. Schon deshalb wird das Landesarbeitsgericht zu klären haben, ob auf Grund der arbeitsvertraglichen Gestaltungen - bei der Arbeitnehmerin N als „Stationshilfe“, bei der Klägerin als „Wirtschaftshilfe“ - eine Austauschbarkeit gegeben ist bzw. ausscheidet. Weiter wird es zu klären haben, ob auf Grund der vertraglichen Vereinbarung der Klägerin - wieder - ein Einsatz als Reinigungskraft in der ITS möglich ist.

c) Sollte damit eine Vergleichbarkeit auf Grund der vertraglichen Rahmenbedingungen zwischen der Klägerin und der Arbeitnehmerin N möglich sein, wird das Landesarbeitsgericht weiter klären müssen, ob die Klägerin überhaupt noch auf der ITS - insbesondere auf Grund ihrer ggf. bestehenden gesundheitlichen Beeinträchtigungen - einsetzbar ist.

Für einen Einsatz in der ITS streitet zunächst, dass sie bereits früher in diesem Bereich gearbeitet hat. Dagegen spricht, dass sie auf Grund ihrer früheren Erkrankung aus diesem Bereich gewechselt ist. Dabei kann aus dem damaligen Wunsch der Klägerin nach einer Versetzung aus der ITS nicht zwingend geschlossen werden, sie komme auch jetzt nicht mehr für einen Einsatz in diesem Bereich in Betracht bzw. sie sei nur eingeschränkt einsetzbar. Ob auf Grund der gesundheitlichen Einschränkungen der Klägerin einerseits und der spezifischen Belastungen einer Tätigkeit als Stations- bzw. Wirtschaftshilfe in der ITS andererseits ihr Einsatz dort tatsächlich nicht mehr in Frage kommt, wird das Landesarbeitsgericht zu klären haben. Sollte ein Einsatz der Klägerin dort nicht mehr möglich sein, wäre eine Vergleichbarkeit zwischen den genannten Arbeitnehmerinnen ausgeschlossen.

4.

Der Klage der Klägerin konnte schließlich nicht schon deshalb stattgegeben werden, weil die Beklagte die bei ihr gebildete Mitarbeitervertretung zur Kündigung nicht ordnungsgemäß beteiligt hat. Ein Beteiligungsfehler ist nicht erkennbar.

IV.

Die Zurückverweisung umfasst auch den nachrangigen Auflösungsantrag der Beklagten.

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